a. Ein schwieriger Lebensweg im sozialen Gerechtigkeitsstreben b. 1933-1945. Zwei widerständige Meißner unter der Naziherrschaft c. Meißens Schicksalstage im April/Mai 1945 d. Was geschah am 6. Mai 1945 in Meißen _________________________________________________________
„Links geradeaus auf verschlungenen Wegen“ (Gerhard Steinecke, Arbeitstitel der Willy-Anker-Biographie)
a. Ein schwieriger Lebensweg im sozialen Gerechtigkeitsstreben _____________________________________________________________ Kurze Auszüge über Ankers Lebensweg aus dem Vortrag von Dr. Mike Schmeitzner,
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismus-Forschung (HAIT), am 7. November 2006 in Meißen.
Veranstalter: Friedrich-Ebert-Stiftung:
„Willy Anker und die anderen: Meißner Sozialdemokraten unter Hitler und Stalin ….
Die politische Herkunft Ankers und seiner Weggefährten:
Das politische Milieu, in das Anker hineingeboren wurde und jahrelang mit prägen sollte, verstand sich vor dem Ersten Weltkrieg als Gegenwelt und im Keime schon als eine Art Gegenentwurf zur konservativ-monarchistischen Gesellschaft. Den halbabsolutistischen Strukturen im Königreich setzte die damalige SPD einen Demokratisierungskurs in Staat und Gesellschaft und die Lösung der sozialen Frage durch eine Umwandlung der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsverhältnisse entgegen. Die Beseitigung der offensichtlichen sozialen Missstände durch die Schaffung von Gemeineigentum an Produktionsmitteln (der Abschaffung jeglicher Ausbeutung) mutete allerdings von Anfang an etwas Religiöses an, erhoffte man sich doch von der erstrebten neuen Gesellschaft das Paradies auf Erden. … Wer jedenfalls nach der Jahrhundertwende aus schlimmster sozialer Armut kam wie eben Willi Anker, für den bedeuteten die grundlegenden sozialen Lösungsansätze der Sozialdemokraten eine Verheißung. Als siebentes von insgesamt 12 Kindern 1885 geboren, verlor er schon früh beide Elternteile und war von da ab fast auf sich allein gestellt: Bis zur Volksschulreife im Meißner Armenversorghaus untergebracht, absolvierte er danach eine Lehre als Drechsler. Zur SPD stieß Anker im Alter von 22 Jahren (nämlich 1907) fast folgerichtig, zumal sie in Meißen alles andere als eine politische Sekte war. Mit 8000 Mitgliedern im Kreis war sie zur Zeit der Weimarer Republik ein mächtiger politischer Faktor, der die Entwicklung der Stadt und des Kreises maßgeblich mitbestimmte: Sie verfügte hier über zahlreiche Vorfeldorganisationen im Jugendbereich, im Arbeitersport, auf dem Bildungssektor, im Genossenschaftswesen und bei den Freidenkern. Meißens SPD konnte sich sogar eine eigene Zeitung leisten, die – als „Volkszeitung für Meißen und Umgebung“ – allein an mehrere tausend Abonnenten ausgeliefert wurde. … In diesem Kreis ordnete sich Willi Anker seit 1923 als hauptamtlicher Ortssekretär der SPD ein. Größere Ambitionen als die hauptamtliche Koordinierung der örtlichen Parteiarbeit lassen sich in seinem Fall bis 1933 nicht erkennen. … Es dürfte aber auch ein Zeichen von Bescheidenheit und des Bewusstseins seiner eigenen Möglichkeiten gewesen sein, die Anker eher im Hintergrund agieren ließen. Das bedeutet jedoch nicht, dass er nicht auf in öffentlichen Auftritten für die SPD geworben hätte – eine Partei, die sich seit 1919 und speziell in Meißen zur staatstragenden Partei entwickelt hatte; die Demokratisierung schien jedenfalls verwirklicht, und an wirtschaftssozialistische Umgestaltungen war vorerst nicht zu denken.
Im Dritten Reich Verfolgung, Tod und erste Trennung:
Im Frühjahr 1933 traf der Terror der Nationalsozialisten und ihrer Bürgerkriegsarmee – der SA – alle Andersdenkenden, vor allem aber ihre linken Gegner – Kommunisten, Sozialisten (SAP) und Sozialdemokraten. Verhaftet wurden zumeist die aktivsten Streiter der Parteien, im Falle der Meißner SPD fast ihre komplette Führungsriege: Dazu zählte natürlich Willi Anker, … Alfred Dobbert …Karl Bielig …, Richard Schmidt… . Das schwerste Schicksal hatte aber Anker erlitten, der … in das gerade hergerichtete KZ Hohnstein verbracht wurde. … Der weitere Weg der Sozialdemokraten war nicht untypisch für viele in die innere Emigration gezwungene SPD-Funktionäre: Ihrer Funktionen, Mandate und beruflichen Stellungen (Redaktion der „Volkszeitung“) verlustig gegangen, versuchten sie unter erschwerten Bedingungen zu überleben: Z.B. als Versicherungsvertreter, Lebensmittelhändler usw. Anker versuchte zuerst im Gaststätten- und Baugewerbe unterzukommen, und fand dann bei einer Radebeuler Firma eine Anstellung (wie der Meißner Stadtchronist Gerhard Steinecke herausgefunden hat). Im Spätsommer 1944 wurde Anker noch einmal kurzzeitig verhaftet: Und zwar im Gefolge der allgemeinen Verhaftungswelle nach dem gescheiterten Aufstandsversuch vom 20. Juli 1944!
Der Mai 1945 in Meißen:
Willi Anker hatte den Mut, an diesem Tag vom Rathaus-Balkon aus gegen die Räumung der Stadt zu sprechen und für die kampflose Übergabe an die anrückende Rote Armee aufzurufen! In dieser Situation war er zwar nicht der einzige, der so handelte.… Ergebnis: Vieles an Substanz der Meißner Stadt konnte dadurch gerettet werden! … Gerhard Steinecke hat geschildert, wie die einrückende Rote Armee auf Anker aufmerksam wurde, und wie er auf das Amt des Oberbürgermeisters verzichtet hat. Und zwar zugunsten des Altkommunisten Albert Mücke! Anker selbst wurde stellvertretender Bürgermeister, doch im Vordergrund stand er nicht. Und durch Militanz zeichnete er sich in den nächsten Wochen und Monaten auch nicht aus. Anker wiederum tritt – wie schon im Sommer 1945 – auch jetzt (1948 M.R.) nicht sonderlich in Erscheinung (jedenfalls nicht im Sinne von Diktaturmaßnahmen – so die bislang belegbare Quellenlage!). Im März 1948 wird er sogar aus seinem Amt verdrängt, und nur kurzzeitig mit dem „Dezernat für Handel und Versorgung“ betraut. Als Rentner muss er es sogar erleben, dass er zumindest vorübergehend den Status eines Opfers des Faschismus verliert.“ … „Ankers Tat vom 6. Mai 1945 ist eine bemerkenswerte Leistung, die auch nicht durch seine spätere KPD/SED-Mitgliedschaft geschmälert wird. Nach jetziger Aktenlage – und hier bin ich mir mit Gerhard Steinecke einig – war Anker kein Mann der Diktatur, kein militanter Kommunist, auch kein Mann der Privilegien.“
b. 1933-1945: Zwei widerständige Meißner unter Naziherrschaft ________________________________________________________________ Schon frühzeitig sieht Superintendent Herbert Böhme zweifellos besorgt auf das despotische Regime, das sich die demagogische Bezeichnung „Nationalsozialismus“ zugelegt hatte.
Im Oktober 1933 geht Herbert Böhme in einer Predigt auf Distanz zur menschenfeindlichen NS-Ideologie. Auf Anordnung des faschistischen Reichsbischofs Ludwig Müller müssen die Pfarrer eine „Volksmissions-Woche“ durchführen, in der die folgenden drei Predigt-Themen zu behandeln sind: „Die Stellung unseres Volkes zu Gott, Christus und zur Kirche“ „Kirche marschiert – Volk reihe Dich ein!“ „Gott ruft – Volk höre!“ Damit sollen die Gläubigen auf den Hitlerfaschismus eingeschworen werden. Auf der 1. Reichstagung der „Deutschen Christen“ am 3.4.1933 in Berlin hatte Pfarrer Nobiling die „Gleichschaltung der Kirche … mit dem Volksstaat der nationalen Revolution“ gefordert. Man behauptete, der Führer Adolf Hitler sei das größte Geschenk Gottes an das deutsche Volk in seiner bisherigen Geschichte.

Landesbischof Ludwig Müller, der künftige Reichsbischof, 1933 beim Heil-Gruß für Hitler. Foto: Wikipedia/Bundesarchiv
Superintendent Herbert Böhme spricht am 20. Okt. 1933 in der Afrakirche zum Thema: „Die Stellung unseres Volkes zu Gott, Christus und zur Kirche“. Er entnimmt dem Thema jedoch nur das Stichwort „Kirche“, und – wie dem nachstehenden Zeitungsbericht entnommen werden kann – erläutert er dazu:
- Die Kirche darf niemals eine staatliche Institution werden. Sie braucht die Freiheit der Verkündigung.
- Die Kirche darf keine Unterschiede kennen, auch keine „Rassenunterschiede“.
- In der Kirche gibt es nur eine „Gleichschaltung“, die der Herzen!
Das waren deutliche Worte der Kritik an der „Deutschen Kirche“, an der Rassentheorie und an der NS-Gleichschaltung aller Institutionen.
Der SPD-Ortsvorsitzende Willy Anker tritt seit 1923 für Demokratie und soziale Gerechtigkeit ein und ist gleichzeitig von 1923 bis 1945 ein praktisch ausgewiesener, aktiver Nazigegner. Schon 1923 verurteilt er entschieden alle Umsturzversuche gegen die Weimarer Republik von rechts und links. Von 1923 bis zum 4. März 1933 – also noch 5 Wochen nach dem Herrschaftsbeginn Hitlers als „Führer des Deutschen Reiches“ – tritt er als SPD-Vorsitzender und damit auch als Verantwortlicher bzw. als Vorstandsmitglied des „Republikanischen Reichsbundes Schwarz- Rot-Gold“ (SPD) und der „Eisernen Front“ (SPD) unerschrocken öffentlich gegen den sog. „Nationalsozialismus“ auf. Von Mitte März bis Anfang Mai 1933 beteiligt er sich in der Illegalität an den ersten Widerstandsbemühungen von SPD-Genossen in Dresden. Nach seiner Entlassung aus dem extrem grausamen SA-KZ Hohnstein befindet er sich jedoch unter ständiger Überwachung. Er muß sich also sehr vorsehen, wenn er Verbindung zu seinen Meißner SPD-Genossen hält oder auch Flüsterpropaganda zu betreiben versucht, ohne sich und damit auch seine Familie mit drei Kindern, die auf ihn angewiesen sind, zu gefährden. Im März 1939 protestiert er allerdings vor seinen Arbeitskollegen auch einmal recht laut gegen den Wehrmachtseinmarsch in Böhmen und Mähren, sodaß es die Gestapo erfährt. Im Verhör kann er sich aber mit Not und Mühe herausreden. 1944 wird er nach dem Hitlerattentat in der „Aktion Gitter“ erneut verhaftet und erst nach seiner Unterschrift unter eine Loyalitätserklärung wieder freigelassen. Im April 1945 intensiviert er seine Kontakte zu SPD-Genossen und auch zu Meißner Kommunisten, um gemeinsame Bemühungen zur Abwendung von Gefahren für die Stadt und ihre Bevölkerung beim Herannahen der Front und bis zum Kriegsende zu verabreden. War er am 3. März 1933 offenbar der letzte öffentliche Redner gegen die Nazis schon unter ihrer Herrschaft, so wird er am 6. Mai 1945 zum ersten öffentlichen Redner gegen NS-Befehle noch unter der Naziherrschaft in Meißen, an ihrem letzten Tag. Womit er am 6. Mai wirksam zum anschließend beginnenden Machtzusammenbruch und zur Flucht der Meißner NS-Bonzen, zu einem weitgehend unblutigen, opfer- und zerstörungsfreien Ende der gesamten NS-Terrorherrschaft in Meißen und zu besonnenem Verhalten eines Großteils der Meißner Bevölkerung beiträgt.
Anker tritt seine Funktion 1923 in einer politisch turbulenten, krisen-, konflikt- und gefahrenreichen Zeit an und bleibt wegen seiner intensiven politisch organisatorischen Fleißarbeit der stets gern wiedergewählte SPD-Ortsvorsitzende nicht nur bis zum SPD-Verbot im Juni 1933, sondern faktisch noch – trotz des SPD-Verbots – bis zum 31. Mai 1945.
Willy Ankers Einsatz für die Verteidigung der Weimarer Republik 1923 – 1933.
Zwischen 1923 und 1933 beschäftigt sich Anker als SPD-Ortsvorsitzender vor allem auch mit dem Aufbau und der Arbeit des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ und später der „Eisernen Front“ zur Verteidigung der Republik. Hier einige Beispiele:
- Als Leiter einer SPD-Kundgebung in Gauernitz anläßlich des Verfassungstages wendet sich Willy Anker am Samstag, den 11. August 1923 gegen faschistische und kommunistische Umsturzversuche. Er bekennt sich zur demokratischen Republik und zu ihrer Verfassung.
- 1926 nimmt Willy Anker an zentralen Arbeitstagungen des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ teil. Die SPD-Fraktion im Stadtparlament erhält die Mehrheit der Sitze.
- Am 15. Mai 1929 lehnen die SPD-Stadtverordneten den Antrag auf die Ehrenbürgerschaft für den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ab, worauf er von seinem Besuch der Stadt absehen muss. Meißen wird unter der Bezeichnung “das rote Meißen” bekannt. (Hindenburg erhält gemeinsam mit Hitler die Ehrenbürgerschaft erst 1933 unter der Naziherrschaft in Meißen.)
- Am Mittwoch, 19. November 1930, leitet Willy Anker eine Kundgebung gegen Faschismus in der Geipelburg. Es spricht der SPD-Reichstagsabgeordnete August Siemsen.
- Am Sonntag, 25. Jan. 1931, leitet er abermals eine überfüllte antifaschistische SPD-Kundgebung zum Schutz der Republik in der Geipelburg.
- Am 4. Juni 1931 findet in der Geipelburg eine Großveranstaltung der SPD mit dem Enkel von Karl Marx, RA Jean Longuet, seinem Sohn Robert-Jean Longuet und mit Camille Huysmans, dem späteren Ministerpräsidenten Belgiens von 1946 bis 1947 statt.
- Im Januar 1932 wird in Meißen unter leitender Mitwirkung Willy Ankers die „Eiserne Front“ gegen die Gefährdung der Republik gegründet und für die reichsweit geplanten Aufmärsche am 21./22. Febr. 1932 wird eine erste Kundgebung auch in Meißen geplant.
- Am Dienstag, 9. Febr. 1932, marschieren rund 1.500 Kämpfern der antifaschistischen „Eisernen Front“ auf. Anschließend antifaschistische SPD-Kundgebungen: Im „Alberthof“, im Gewerkschaftshaus, und unter Leitung Willy Ankers in der „Geipelburg“ (SPD-Reichstagsabgeordneter Alfred Dobbert, 1.400 Teilnehmer).
- Am Sonntag, 21. Febr. 1932, findet in Meißen ein Aufmarsch von rund 5.000 Kämpfern der „Eisernen Front“ mit 3 Spielmannszügen, 1 Spielmannskapelle und 2 Musikkapellen statt. Willy Anker begrüßt auf dem Markt die Kämpfer im Namen des Vorstands der „Eisernen Front.
- Am Samstag, 9. Juli 1932, marschieren cirka 4.500 Kämpfer der „Eisernen Front“ auf dem Markt auf. Willy Anker eröffnet im Namen der Kampfleitung die Kundgebung.

Willy Anker meldet am 21. Juli 1932 eine Aktion des antifaschistischen „Republikanischen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“ (SPD) an
Kopie: Stadtarchiv Meißen
Nach dem Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933:
Auch nach Hitlers Machtantritt als Reichskanzler wird der Widerstand in Meißen fortgesetzt:
- Am 1. Februar 1933 marschiert die Eiserne Front mit cirka 2.000 – 4.000 Kämpfern durch Meißen, begrüßt von einem Spalier aus gut fünftausend Meißnern.
- Am Samstag, 18. Februar 1933, findet in der Geipelburg das 41. SPD-Stiftungsfest mit einem satirischen Abend unter dem Titel „Der Marsch ins 4. Reich“ statt, aufgeführt von den „Roten Ratten“, Meißen.
- Am Mittwoch, 1. März 1933, referiert Albert Mücke in der Geipelburg vor 250 Besuchern einer Veranstaltung der „Deutschen Friedensgesellschaft“ anstelle eines bereits von den Nazis verhafteten pazifistischen Redners aus Berlin.
- Am Donnerstag, 2. März 1933, findet die letzte antifaschistische SPD-Kundgebung mit 1.700 Teilnehmern in der Geipelburg statt. Kundgebungsleiter Willy Anker charakterisiert die niederträchtige Verhaltensweise der Nazis.
- Freitag, 3. März 1933: W. Anker spricht auf einer öffentlichen SPD-Versammlung im Gasthof Hohentanne. Abends findet der letzte Aufmarsch der Eisernen Front in Meißen mit Spielmanns-zügen und Musikkapellen statt.
Die letzte Reichstagswahl am Sonntag, 5.März 1933:
Reichsweit siegt die NSDAP mit 43,9% (+10,8%) der Stimmen, die SPD erhält nur noch 18,3% (-2,1%), die KPD nur noch 12,3% (-4,8%).
In Sachsen erhält die NSDAP sogar 45 % der Stimmen, die SPD knapp 32 %.
Aber nicht in Meißen:
Im “roten Meißen” kann die SPD ihre Mehrheit noch einmal um rund eintausend Stimmen mehr als 1932 auf 13.447 Stimmen steigern.
Die NSDAP, die in Meißen inzwischen ebenfalls recht aktiv war, folgt nun aber schon mit 11.387 Stimmen auf dem 2. Platz. Für die KPD stimmen 3.096 Meißner Wähler.
Auch bei den nachfolgenden Volksabstimmungen über den Austritt aus dem Völkerbund oder über die Übernahme des Reichspräsidentenamtes durch Hitler als “Führer” bleiben die Ja-Stimmen für die Nazis in Meißen hinter dem Reichsdurchschnitt zurück.
(Siehe: G. Steinecke “Unser Meißen 1929-2004″, S. 21 und 41/42)
Diese Ergebnisse sind der politischen Arbeit der SPD-Mitglieder in der Stadt, insbesondere der Überzeugungskraft ihrer führenden Köpfe wie Alfred Dobbert, Karl Bielig, Richard Schmidt, und nicht zuletzt auch dem unermüdlichen Einsatz ihres Vorsitzenden Willy Anker zu verdanken.
Nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933
Schon am 12. Januar 1933 hatte die NSDAP-Fraktion den Tagungsraum des Stadtrats verwüstet. Allen voran auch der spätere NS-Bürgermeister Walter Kaule, rissen die Nazis Stühle auseinander und prügelten mit Stuhlbeinen auf die Linken ein.
Doch nun sollte alles noch viel schlimmer kommen. Schon am 8. März hissen die NS-Horden ihre Fahnen am Rathaus und an anderen Gebäuden.
- Am 9. März um 6 Uhr morgens marschieren SA- und SS-Einheiten durch die Stadt. Sie besetzen das Meißner Stadtzentrum, dringen in das Gewerkschaftshaus in der Martinstraße sowie in das Gebäude der “Volks-Zeitung” in der Fährmannstraße ein und übernehmen in Meißen faktisch die Herrschaft, auch unter Einsatz ihrer Schusswaffen. Eine wilde Jagd auf die verhaßtesten Kommunisten und Sozialdemokraten beginnt. Richard Tübel, der Leiter des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, wird verhaftet. Vergebliche Haussuchung in Ankers Wohnung Moritzstraße 1. Neben dem SPD-Landtags- und Stadtverordneten Emil Mende und anderen SPD-Funktionären hat sich auch Willy Anker in Sicherheit gebracht. Er versteckt sich zunächst in Meißen, bevor ihn zwei Genossen mit dem Auto zu seinem Schwager Arthur Euchler nach Dresden bringen, von wo aus er an den Bemühungen von Dresdner Genossen zur Organisation von Widerstand – laut Aussage von Hans Lämmers führend – teilnimmt .
- Am 11. März wird die “Eiserne Front” in Sachsen verboten.
- Im April werden Alfred Dobbert, Karl Bielig, Hans Hackebeil und der 72-jährige Amtshauptmann Richard Schmidt (SPD) verhaftet und Willy Anker zur Fahndung ausgeschrieben. Am 27. April meldet das Meißner Tageblatt: “Keine Sozialdemokraten im Meißner Stadtverordneten-Kollegium”.
- 13. Mai 1945: Willy Anker besucht heimlich seine Familie in der Moritzstraße 1, auch um sich für die weitere illegale Arbeit auszurüsten. Die Gestapo erfährt es und verhaftet ihn. Nach ersten Verhören in der Dresdner “Mathilde” wird er zur “Besserung” in das berüchtigte SA-KZ Burg Hohnstein gebracht, weil er Aussagen über die SPD Meißen verweigert hat.
Eine kurze Notiz im Meißner Tageblatt vom 31. Mai 1945:
Willy Ankers Bericht über seine Verhaftung, seine Verhöre und seine Internierung im KZ Burg Hohnstein:
Nach seiner Entlassung am 25. Juli 1933 aus dem KZ weiter unter Polizeiaufsicht:

Meißens Herrscher vor dem Rathaus, 1937. In Zivil: NSDAP-Kreisleiter Hellmut Böhme, links von ihm: OB Hans Drechsel Foto: Bestand G. Steinecke/Dr. G. Baum
Beurteilung Willy Ankers durch die Gestapo vom 6.November 1935:
1939/40: Hitlers Aggressionskriege beginnen:
Juli 1944: Der wichtigste unter 42 Attentats-Versuchen auf Hitler
Oberst Stauffenberg und Hitler vor dem Attentat. Die zerstörte Baracke. Fotos: Wikipedia.
August 1944: Reichsweite Gestapo-Aktion „Gitter“: Erneute Verhaftung Willy Ankers.
Am 22. August 1944 zählt Willy Anker zu den reichsweit ca. 5.000 „Auserwählten“ – vor allem Sozialdemokraten, Kommunisten, Geistliche und Persönlichkeiten wie z.B. Kurt Schumacher und Konrad Adenauer – die von der Gestapo verhaftet und für kürzere oder längere Zeit eingesperrt werden. Adolf Hitler hatte schon 1942 angekündigt, mit der sofortigen Verhaftung „aller leitenden Männer gegnerischer Strömungen“ zu reagieren, falls irgendwelche Meutereien im Reich – wie z.B. das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 – ausbrechen sollten. Die Aktion Gitter ist jedoch auch
„das erste Anzeichen, daß Hitler jeder möglichen Wiederholung des seiner Meinung nach vorzeitigen Kriegsabbruchs von 1918 vorbeugen wollte: daß er entschlossen war, auch ohne sichtbare Chance bis zum bitteren Ende weiterzukämpfen,“ bis „fünf Minuten nach zwölf.“ (Sebastian Haffner „Anmerkungen zu Hitler“, S. 188) Aus Meißen werden 15 Personen – u.a. Max Kamprath (KPD), Willi Lang (SPD), Gerhard Ziller (KPD), Karl Niesner (SPD) und Frieda Zocher (SPD) – im Amtsgerichtsgefängnis Meißen inhaftiert. Beim täglichen Hofgang kann Anker jedoch sehr anregende Gespräche u.a. mit Gerhard Ziller führen (dem späteren DDR-Minister und Ulbricht-Kritiker, der 1957 des „Fraktionismus“ beschuldigt wurde und einer Verurteilung mit seinem Freitod zuvorkam.) – 13 Verhaftete, auch W. Anker, unterschreiben Loyalitätserklärung und kommen nach zehn Tagen frei. Der Sozialdemokrat Karl Niesner und der Kommunist Max Kamprath verweigern die Unterschrift und sterben noch kurz vor dem Kriegsende als KZ-Häftlinge.

Begräbnis des Meißner Jagdflieger-Majors und Ritterkreuzträgers mit Eichenlaub und Schwertern Hans Philipp am 14. Oktober 1943. Nach über 200 Abschüssen wurde auch sein Flugzeug getroffen. Foto: Stadtarchiv Meißen

Eine Ersatz- und Ausbildungseinheit aus der Kaserne in Bohnitzsch Ende 1944. Foto: G. Steinecke/Stadtarchiv Meißen
c. Meißens Schicksalstage im April und Mai 1945 _______________________________________________________ Meißen sei ein „Mikrokosmos der deutschen Geschichte“, meinte einst der berühmte deutsche Historiker Karl Gotthard Lamprecht (1856-1915). Die Wahrheit seiner Worte erwies sich gerade auch in der Zeit des „roten Meißens“ von 1918 bis 1933, in den leidvoll bitteren Jahren der NS-Herrschaft von 1933 bis 1945 und nicht zuletzt im Frühjahr 1945, als Meißen zu einem Brennpunkt des Verzweiflungskampfes um die Abwendung der Niederlage des Hitlerregimes und um seinen immer noch erhofften „Endsieg“ wird.
Was geschieht seit Anfang 1945 in Meißen?
- Von Januar bis Anfang März 1945 ziehen über eintausend deutsche Flüchtlingstrecks aus dem Osten durch Meißen. Über viertausend Flüchtlinge versuchen in Meißen unterzukommen.
- Am 30. Januar 1945 findet auf dem Markt die jährliche Kundgebung zum Jahrestag der “Machtergreifung” statt. NSDAP-Kreisleiter Böhme behauptet, Hitler erfülle “einen Auftrag Gottes”.
Er werde seine “Sendung gottbegnadet” bis zum Endsieg erfüllen.

Am 30. Januar 1945: Großkundgebung auf dem Markt zum Jahrestag des Machtantritts. Kopie: Stadtarchiv Meißen
- Am 1. Februar 1945 erklärt Gauleiter Mutschmann beim Appell eines Meißner Volkssturmbataillons: “Es gibt für uns nur eins: Siegen oder sterben.”

Gauleiter Mutschmann spricht am 1. Febr. 1945 vor einem Meißner Volkssturm-Bataillon. Kopie: Stadtarchiv Meißen. Er schließt mit der Frage: “Was ist stärker als das Schicksal?” Seine Antwort: “Der Mut, der es bezwingt! Es gibt für uns nur eins: Siegen oder Sterben.”
- Seit Mitte Februar treffen Hunderte beim Bombenangriff verwundete und 18.000 obdachlos
gewordene Dresdner in Meißen ein und müssen untergebracht werden. - Am 11. März 1945 Kundgebung zum “Heldengedenktag”: NSDAP-Kreisleiter Böhme
beschwört die Entschlossenheit zum Kampf bis zum “Endsieg”.
- Am 2. April trägt NSDAP-Kreisleiter Hellmuth Böhme in sein Tagebuch ein:
„2. 4.45, früh 8.30 h verabschiedete ich in der Kreisleitung 5 Mann für das Freikorps >Adolf Hitler< … Die Wehrmacht ist aufgestanden, dem Feind den Aufenthalt im Reich zur Hölle zu machen. Selbst bei uns wird geschanzt, werden Sperren errichtet, und zur Verteidigung Meißens habe ich Waffen und Minen bauen lassen, die wir einsetzen werden, solange noch Leben in uns ist.“ (G. Steinecke „Unser Meißen – 1929-2004“, Abb. 86 auf S. 106)
- Im April werden immerwieder Marschkolonnen aus Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und
KZ-Häftlingen durch die Stadt geführt. - Am Sonntag, den 15. April 1945 wird über Meißen der Belagerungszustand verhängt. Auf der Albrechtsburg richtet Kampfkommandant SS-Obersturmbannführer Voß seinen Gefechtsstand ein.
- Am Mittwoch, den 18. April 45 werden im Buschbad oberhalb des Diebeskellers und im Stadtwald Werfer-Batterien in Stellung gebracht. In der Albrechtsburg werden Panzerfäuste und Handgranaten eingelagert. (G. Steinecke „Vorbereitung auf den Endkampf“, Teil 1 in der Serie: „1945. Kriegsschauplatz Meißner Land“, MTB 2005)
- Zeitzeuge Giso Müller erinnert sich an einen Meißner HJ-Appell gegen Ende April – vielleicht wie immer zum Führergeburtstag am 20. April? – auf dem zwei ältere Hitlerjungen aus der Poststraße zur „Kampflinie Meißen-Bonitzsch“ abkommandiert werden. „Einen Tag später waren sie durch russische Scharfschützen tot.“ (Schriftlicher Erinnerungsbericht von Giso Müller vom 29.11.2009)
- Am Montag, den 23. April erhängen HJ-ler aus der HJ-Führerschule Dresden in Polenz den Arbeiter Max Stange an einer Linde, weil sie bei ihm eine weiße Fahne fanden.
- Am Donnerstag, den 26. April 45 sprengt eine Pionierabteilung der Wehrmacht auf Befehl des Generals Lüdecke und des Standortkommandanten SS-Obergruppenführer Voß die Meißner Brücken über die Elbe. Das gelingt nur zu cirka 60 %, weil der Metallarbeiter und Sozialdemokrat Arthur Starke in der Nacht zuvor – unbemerkt von der Wehrmachts-Brückenwache – heimlich ein Zündkabel durchschneiden konnte, sodaß der Mittelteil der Brücke erhalten bleibt. Die Sprengung richtet jedoch größere Zerstörungen in der näheren Umgebung und Schäden in der Altstadt an.
- Am Sonntag, den 29. April rücken in das schon sowjetisch besetzt gewesene Lommatzsch SS-Einheiten ein. Sie erschießen an der Kirche 35-39 ausländische Zwangsarbeiter/innen sowie den 16-jährigen Heinz Leichtweiß und den 13-jährigen Sohn einer deutschen Flüchtlingsfamilie wegen angeblicher Plünderei.
- Am Sonntag, den 29. April werden auf dem Meißner Burghof vier junge deutsche Wehrmachtssoldaten von der Feldgendarmerie standrechtlich erschossen.
- Am Montag, den 30. April, erklärt Gauleiter Mutschmann noch einmal drohend: “Wer … Verwirrung stiftet oder schlapp macht, ist ein Schuft und hat sein Leben verwirkt.”
- Am Dienstag, den 1. Mai, werden am Forsthaus im Golkwald die Deutsche Olga Morr mit ihren beiden 8- und 13-jährigen Kindern Franz und Karl wegen Kollaboration mit den “Russen” erschossen.
- Am Montag, den 7. Mai werden in Hartha der 6-jährige Bernd Frenzel und seine Mutter vom gezielten Beschuss der Wehrmacht tödlich getroffen, nur weil sie weiße Wäsche aufgehängt hatten.
- Am Vormittag des 8. Mai wird in Dresden der Arzt Dr. Rainer Fetscher von einer SS-Streife erschossen, weil er der Roten Armee mit einer weißen Fahne entgegenging.
Der mutige Auftritt des Superintendenten Herbert Böhme vor Meißner NS-Herrschern am 27. April 1945
Superintendent Herbert Böhme berichtete kurz nach Kriegsende: „Am Donnerstag, 26. April, … hatte ich meine Töchter nach Wilsdruff in Sicherheit gebracht und war noch am späten Abend … nach Meißen zurückgekehrt, um Stadt und Gemeinde nicht im Stich zu lassen. Unterwegs schon begegnete mir ein endloser Strom von Flüchtlingen aus Meißen, und als ich dort ankam, fand ich die Stadt durch die Brückensprengungen schwer beschädigt.“ (Bericht H. Böhmes an die Kirchenleitung vom 13. Juli 1945. Stadtarchiv Meißen)
Am Freitag, den 27. April spricht Superintendent Herbert Böhme in Begleitung der Pfarrer Hoffmann und Schröder sowie von Studienrat Dr. Johannes Lorenz bei Bürgermeister Kaule in seinem Amtszimmer im Rathaus vor und bittet um Verzicht auf die befohlene Verteidigung Meißens. Er muss aber gewusst haben, dass auf jegliches Bemühen um einen Verzicht auf einen befohlenen Kampf der Tod steht. Es stand immer wieder in den Zeitungen und war auch im Rundfunk oft genug warnend verkündet worden. Kaule schickt den Superintendenten zum Stadtkommandanten SS-Obersturmbannführer Voß, den er ebenfalls offen und unverblümt um einen Kampfverzicht bittet. Der SS-Führer erklärt sich an seinen Befehl gebunden, den er „ohne Rücksicht auf die Folgen durchführen“ wird. Er wirft die Delegation hinaus. Die drei Geistlichen gehen noch einmal zum Rathaus, um mit dem Bürgermeister über den Schutz von Frauen und Kindern vor dem Kampf zu beraten. Im Rathauseingang wird Herbert Böhme vom Polizeichef Major Menzel verhaftet und sofort dem NSDAP-Kreisleiter Böhme vorgeführt. Dieser bestimmt ihn zum Tod durch Erschießen oder Erhängen, was aber noch vom Gauleiter bestätigt werden müsse. Der Superintendent wird dann im Meißner Rathaus eingesperrt. NS-Stadtrat Richard Kmoch kümmert sich um ihn, versucht ihm die Haft erträglicher zu machen und ermöglicht ihm vor allem auch Kontakt zu seiner Frau, zu seinen Amtskollegen und zu seinem Anwalt Dr. Franze. Der Gauleiter fordert am 1. Mai ein Standgericht für Herbert Böhme, dem sich aber die beiden dafür vorgesehenen Meißner Juristen Amtsgerichtsrat Burckhardt und Landgerichtsrat Leonhardt trotz Drohungen des Kreisleiters Böhme standhaft verweigern. Herbert Böhme wird daher am 2. Mai in das Landgericht Dresden am Münchner Platz überführt, wo ihm der vernehmende Staatsanwalt ein Gerichtsverfahren ankündigt und erklärt, dass er ihn wegen der zu erwartenden hohen Strafe wegen versuchter Wehrkraftzersetzung in Haft behalten müsse. Als die Sowjettruppen am 7. Mai in Dresden einzudringen beginnen, wird Herbert Böhme mit allen anderen Häftlingen freigelassen.
Wie geht es Anfang Mai 1945 in Meißen zu?
Meißens Straßen, besonders die Altstadt und der Marktplatz, bleiben bis zum 5./6. Mai 1945 von Gruppen der Wehrmacht, der SS, des „Volkssturms“, der Polizei und der HJ dominiert. Irgendwelche lauten Proteste mit „erhobener Stimme“ in der Öffentlichkeit auf dem Markt oder in den Straßen sind absolut nicht möglich. Sie hätten zu sofortigen Hinrichtungen führen können.
Am 2. Mai 1945: Heiliger Schwur auf dem Markt: „Adolf Hitler – nun erst recht – Sieg heil!“
In der NSDAP-Kreisleitung Fährmannstraße ziehen nach der Bekanntgabe des Todes Hitlers in einer hergerichteten „Ehrenhalle für den toten Führer“ Wehrmachts-Doppelposten auf. Eine Dauerflamme erleuchtet den Raum. Die Bevölkerung defiliert und legt Blumen nieder. Die Ehrenhalle soll bis zum Sonntag, den 6. Mai geöffnet bleiben.
Am 2. Mai 1945 mobilisierten die Meißner Nazis Hunderte Bürger zu einer großen Gedenkkundgebung für den toten Hitler und für die Bewahrung der Stadt durch ihre Verteidigung gegen die vom Westen und vom Osten nahenden alliierten Truppen bis zum angeblich sicheren „Endsieg“.
Das Meißner Tagesblatt vom 3. Mai 1945 berichtet unter der Überschrift „Bekenntnis zum Führer und seinem Vermächtnis“ (Die nachstehende Kopie ist leider unleserlich): „Auf dem Markt haben sich so viele Meißner Volksgenossen versammelt, daß sie den Platz und die Bürgersteige fast füllten, … . Vor dem Rathaus, an dem die Fahnen des Reiches, mit schwarzen Bändern umflort, den toten Führer grüßten, war eine Ehrenabteilung der Wehrmacht aufmarschiert. Nach der Verlesung der Meldung vom Tode des Führers erklang dumpfer Trommelwirbel. …“ NSDAP-Kreisleiter Hellmut Böhme fordert dann, „getreu den Befehlen des Führers weiter zu kämpfen, bis die bolschewistische Pest endgültig vernichtet ist. … In fanatischer Entschlossenheit bekannte sich die versammelte Bevölkerung am Schluss der Ansprache Böhmes zu dem alten Schlachtruf >Adolf Hitler – nun erst recht – Sieg heil!<Meißen bekannte sich zu seinem Führer und zu seinem Vermächtnis.“
Vom 3. bis zum 5./6.Mai 1945 wird die Bevölkerung mit einem durch Lautsprecherwagen und NS-Blockleiter in jedes Haus gebrachten Befehl des NSDAP-Kreisleiters zur Flucht aus der Stadt wegen ihrer bevorstehenden Verteidigung gedrängt. Hunderte Meißner befolgen diese Anordnung.
Die Meißnerin Anne Schmidt berichtet, dass ihre Familie sich am 4. Mai ohnehin schon auf ihre
Flucht vorbereitete, als der Lautsprecherwagen kam und den Befehl gab, “dass der ganze Kreis Meißen geräumt werden müsse. Es solle um Meißen eine große Schlacht geschlagen werden. Da wir gerade marschbereit waren, zogen wir los.”
(U. Klingenberg “Tagebuch-Notizen aus Meißen-Zscheila …”, Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der
Stadt Meißen 1/2000, S. 96)
Doch die meisten Bürger möchten bleiben.
d. Was geschieht am 6. Mai 1945 in Meißen? _______________________________________________________________ Die NS-Zeitung “Der Freiheitskampf” erscheint an diesem Tag mit der Schlagzeile: “Vor der geschichtlichen Wende!” Sie fordert: “Die kommende Entscheidung muss jeden von uns gerüstet finden.”
Gegen 6 Uhr morgens begibt sich das Meißner KPD-Mitglied Kurt Mathe mit einigen weiteren Genossen zur Eisenbahnbrücke über die Elbe, um ihre vollständige Sprengung mit weiteren 38 Dynamitpaketen nach Möglichkeit zu verhindern. Danach versuchen sie die Mannschaft des Geschützes an der Ecke Fährmannstraße/ Uferstraße zur Aufgabe zu bewegen. Es gelingt, die Soldaten nachdenklich werden zu lassen. Doch ein junger Artillerist erklärt, daß er bis zur letzten Granate kämpfen wird.
Am Vormittag spricht sich herum, daß im Rathaus endgültig über die Evakuierung Meißens entschieden werden soll. Etwa 200 – 400 vorwiegend kriegsmüde, verängstigte und fluchtunwillige Leute – überwiegend Frauen, Alte, Kriegsversehrte, Ostflüchtlinge und Ausgebombte aus Dresden – kommen auf den Markt, um die letzte Entscheidung zu erfahren.“
Willy Anker ist unter ihnen. Er berichtet: „Viele Menschen, die in Gruppen auf dem Markt hilflos zusammen standen und von mir immer wieder Rat forderten, habe ich beruhigen können“. (Erinnerungsbericht Ankers, Stadtarchiv Meißen) Denn er verspricht ihnen, auf der Sitzung im Rathaus vorzusprechen und den Verzicht auf die Evakuierung und Verteidigung der Stadt zu fordern. Er geht gemeinsam mit Walter Friedrich ins Rathaus, verschafft sich Zutritt zur Sitzung im Rathaus und verlangt dort offen und energisch die Rücknahme dieser Befehle. Ein hinzugekommener Stabsoffizier bedroht ihn deswegen mit sofortigem Erschießen. Dieser Offizier befiehlt dann den Wartenden auf dem Markt vom Rathausbalkon noch einmal unerbittlich die sofortige Flucht, was viele mit lautem Unmut quittieren. Sofort nach ihm fordert Willy Anker die Bürger vom Rathausbalkon zur Verweigerung dieses Befehls, zum Verbleiben in der Stadt und zum widerstandslosen Empfang der Roten Armee auf, wofür er lauten Beifall erhält. Der NS-Führungsoffizier, dessen Befehlsgewalt Anker vor aller Augen zerbrochen hat, hätte ihn dafür unbedingt sofort hinrichten müssen, um seine Autorität wiederherstellen zu können. Doch ein hinzukommender Wehrmachtskurier, der ihn vermutlich den Befehl zur sofortigen Rückkehr in den Stab wegen des Herannahens der Roten Armee überbringt, veranlaßt seinen überstürzten Abgang. Sein Befehl aber bleibt bestehen.
Ankers mutiger Auftritt bewahrte viele Menschen vor Leid und manche auch vor dem Tod. Denn am Morgen des 6. Mai hatte nördlich von Meißen in Richtung Dresden überraschenderweise einen Tag früher als geplant die letzte Großoffensive der Roten Armee im 2. Weltkrieg begonnen, die „Prager Operation“, die sich nach dem Mittag an Meißen vorbeikämpfte und nachmittags – auch dank Anker – zur kampflosen Besetzung der Stadt führte. Wer Meißen an diesem Tage verlassen hätte, wäre wohl zwischen kämpfende Truppen geraten. Ankers Aufruf vom Rathausbalkon am Vormittag des 6. Mai 1945 war in die erste öffentliche Willensbekundung auf dem Markt noch unter Naziherrschaft seit dem 3. März 1933, als auf dem Markt zum letzten Mal die antifaschistische „Eiserne Front“ aufzog und Willy Anker auf einer öffentlichen Versammlung im Gasthof Hohentanne sprach. Zwischen dem 4. März 1933 und dem 6. Mai 1945 gab es in Meißen keine öffentlichen Protestbekundungen gegen die herrschende NS-Despotie. Willy Anker war also offenbar 1933 der letzte und im Mai 1945 der erste öffentliche Redner schon bzw. noch unter der NS-Herrschaft. Willy Ankers erster schriftlicher Bericht über den 6. Mai 1945:
Anmerkung: Der am 6. Mai 1945 namentlich und seiner Herkunft nach unbekannt gebliebene Hauptmann war nicht von einer Panzerbrigade. Ortschronist Gerhard Steinecke ermittelte, daß es sich um den hauptamtlichen „Nationalsozialistischen Führungsoffizier (BSFO)“ Kurt Dittes vom Stellvertretenden Generalkommando des IV. Armeekorps in Dresden handelte. Der Offizier sollte die Evakuierung und Verteidigung Meißens erzwingen. Wegen der überraschend schon am Vormittag des 6. Mai beginnenden „Prager Operation“ der Roten Armee und ihrem raschen Vormarsch auf Meißen mußte dieser wichtige Stabsoffizier überstürzt zurückbefohlen werden.
Zeitzeugen sagen aus:
Giso Müller, 1945 dreizehn Jahre alt, war am 6. Mai mit seinem Vater auf dem Markt: „Der Markt war, als wir ankamen, bereits gut gefüllt. Nach meiner Auffassung mußten es 400 Personen sein, ältere Männer, Verwundete, aber auch viele Hausfrauen und Mütter, deren Söhne an der Front waren. Als wir ankamen, sprach schon der Wehrmachtsoffizier. Sein Auftreten verriet diese fanatische Kampfstimmung für einen „Endsieg“. Er wurde mehrmals durch Protestrufe unterbrochen. Nach dem Kampfredner erschien ein Mann in Zivilkleidung, stellte sich vor und sagte, daß er Meißen vor weiteren kriegerischen Maßnahmen schützen will.Er verurteilte die Gewaltrede des Vorgängers und bekam den Beifall der Bevölkerung. Seine Worte wurden immer wieder mit offener Zustimmung begrüßt. Wir waren über den Mut von Willy Anker erstaunt. Für die teilnehmende Meißner Bevölkerung ein außergewöhnlicher Zustand.“ (Erinnerungsbericht G. Müllers vom 26.11.2009)
Ursula Rien bestätigt es: „Mit Unmut wurde der Ausruf, die Stadt wird verteidigt, es gehe um den Endsieg, und die Aufforderung des Wehrmachts- oder SS-Offiziers aufgenommen, die Stadt zu verlassen. Verzweiflung machte sich nicht nur bei mir breit. Doch plötzlich ertönte eine Stimme, die die Versammelten aufrief zur Besonnenheit, der Sinnlosigkei der Verteidigung der Stadt und des widerstandslosen Empfanges der sowjetischen Truppen. Auch vernahm ich die Bitte, ein Plündern zu verhindern. Geht nach Hause. Mit gemischten Gefühlen ging ich nach Hause, einmal war es die Angst vor den Tod und die wachsende Hoffnung und Zuversicht, dass sich die mutigen Worte von Willy Anker, dessen Namen ich bei der Auflösung der Versammlung erfuhr, erfüllen. Wir vertrauten ihm und blieben, wie die meisten Einwohner, zu Hause.“
Margot Wahl, damals 14 Jahre alt, die mit ihrer Mutter und mit ihrer Schwester auf dem Markt war, erinnert sich: „Nach einem mörderischen Befehl der Nazis sollten wir Bürger unsere Stadt verlassen, aber wohin? … Da gab uns ein Mann, Willy Anker, Hoffnung und Mut in einer Rede, die mehr als mutig war. Er gab uns Hoffnung für die Zukunft. Doch dies können wohl nur Meißner Bürger, die diese Zeit am eigenen Leib gespürt haben, verstehen und werten.“ (Leserbrief in der SZ 29.4.10)
Die Mutter der Zeitzeugin Edith Winter, die ebenfalls auf den Markt gegangen war, um zu erfahren, ob sie die Stadt wirklich verlassen müssen, kam nach diesem Aufruf Willy Ankers sehr erleichtert nach Hause und sagte ihrer Tochter Edith, daß sie nun doch daheim bleiben können.
Ein aus Meißen befehlsgemäß geflohenes Ehepaar, das bis bis Tharandt gekommen war, äußerte sich auf seinem Rückmarsch in Wilsdruff: „Man kann auch zu Hause umkommen, sicherer ist das noch auf der Landstraße.“ (Wolfgang Fleischer „Das Kriegsende in Sachsen 1945,, S. 132)

Auszug aus der Gedenkrede des Meißner Ehrenbürgers Helmut Reibig für Willy Anker anläßlich seines 100. Geburtstages und 25. Todestages. Rudolf Richter, VVN/BdA Meißen

Das Rathaus, von dessen Balkon Willy Anker am 6. Mai 1945 zur Befehlsverweigerung aufrief. Foto aus: G. Steinecke „Meißen – so wie es war“, Droste Verlag 1994, S. 21
Vier Auszüge aus dem Manuskript der Biographie Willy Ankers, die Ortschronist Gerhard Steinecke nach umfangreichen akribischen Recherchen unter dem Arbeitstitel „Links geradeaus auf verschlungenen Wegen“zur Veröffentlichung vorbereitet:

Ortschronist G. Steinecke liest und erläutert die nachstehenden Textauszüge aus dem Manuskript der Anker-Biographie. Foto: privat
2. Teil: Er war anders, und er half, wo er konnte. Zeugnisse vom Wirken Willy Ankers 1945 – 1960
3. Teil: a. Aus jüngsten Untersuchungen über Leben und Wirken Willy Ankers b. Zum bisherigen Gedenken an Herbert Böhme, Willy Anker und die anderen Mutigen