Was geschieht am 6. Mai 1945 in Meißen?
Die NS-Zeitung “Der Freiheitskampf” erscheint an diesem Tag mit der Schlagzeile: “Vor der geschichtlichen Wende!” Sie fordert: “Die kommende Entscheidung muss jeden von uns gerüstet finden.”
Gegen 6 Uhr morgens begibt sich das Meißner KPD-Mitglied Kurt Mathe mit einigen weiteren Genossen zur Eisenbahnbrücke über die Elbe, um ihre vollständige Sprengung mit weiteren 38 Dynamitpaketen nach Möglichkeit zu verhindern. Danach versuchen sie die Mannschaft des Geschützes an der Ecke Fährmannstraße/ Uferstraße zur Aufgabe zu bewegen. Es gelingt, die Soldaten nachdenklich werden zu lassen. Doch ein junger Artillerist erklärt, daß er bis zur letzten Granate kämpfen wird.
Am Vormittag spricht sich herum, daß im Rathaus endgültig über die Evakuierung Meißens entschieden werden soll. Etwa 200 – 400 vorwiegend kriegsmüde, verängstigte und fluchtunwillige Leute – überwiegend Frauen, Alte, Kriegsversehrte, Ostflüchtlinge und Ausgebombte aus Dresden – kommen auf den Markt, um die letzte Entscheidung zu erfahren.“
Willy Anker ist unter ihnen. Er berichtet: „Viele Menschen, die in Gruppen auf dem Markt hilflos zusammen standen und von mir immer wieder Rat forderten, habe ich beruhigen können“. (Erinnerungsbericht Ankers, Stadtarchiv Meißen) Denn er verspricht ihnen, auf der Sitzung im Rathaus vorzusprechen und den Verzicht auf die Evakuierung und Verteidigung der Stadt zu fordern. Er geht gemeinsam mit Walter Friedrich ins Rathaus, verschafft sich Zutritt zur Sitzung im Rathaus und verlangt dort offen und energisch die Rücknahme dieser Befehle. Ein hinzugekommener Stabsoffizier bedroht ihn deswegen mit sofortigem Erschießen. Dieser Offizier befiehlt dann den Wartenden auf dem Markt vom Rathausbalkon noch einmal unerbittlich die sofortige Flucht, was viele mit lautem Unmut quittieren. Sofort nach ihm fordert Willy Anker die Bürger vom Rathausbalkon zur Verweigerung dieses Befehls, zum Verbleiben in der Stadt und zum widerstandslosen Empfang der Roten Armee auf, wofür er lauten Beifall erhält. Der NS-Führungsoffizier, dessen Befehlsgewalt Anker vor aller Augen zerbrochen hat, hätte ihn dafür unbedingt sofort hinrichten müssen, um seine Autorität wiederherstellen zu können. Doch ein hinzukommender Wehrmachtskurier, der ihn vermutlich den Befehl zur sofortigen Rückkehr in den Stab wegen des Herannahens der Roten Armee überbringt, veranlaßt seinen überstürzten Abgang. Sein Befehl aber bleibt bestehen.
Ankers mutiger Auftritt bewahrte viele Menschen vor Leid und manche auch vor dem Tod. Denn am Morgen des 6. Mai hatte nördlich von Meißen in Richtung Dresden überraschenderweise einen Tag früher als geplant die letzte Großoffensive der Roten Armee im 2. Weltkrieg begonnen, die „Prager Operation“, die sich nach dem Mittag an Meißen vorbeikämpfte und nachmittags – auch dank Anker – zur kampflosen Besetzung der Stadt führte. Wer Meißen an diesem Tage verlassen hätte, wäre wohl zwischen kämpfende Truppen geraten. Ankers Aufruf vom Rathausbalkon am Vormittag des 6. Mai 1945 war in die erste öffentliche Willensbekundung auf dem Markt noch unter Naziherrschaft seit dem 3. März 1933, als auf dem Markt zum letzten Mal die antifaschistische „Eiserne Front“ aufzog und Willy Anker auf einer öffentlichen Versammlung im Gasthof Hohentanne sprach. Zwischen dem 4. März 1933 und dem 6. Mai 1945 gab es in Meißen keine öffentlichen Protestbekundungen gegen die herrschende NS-Despotie. Willy Anker war also offenbar 1933 der letzte und im Mai 1945 der erste öffentliche Redner schon bzw. noch unter der NS-Herrschaft. Willy Ankers erster schriftlicher Bericht über den 6. Mai 1945:
Anmerkung: Der am 6. Mai 1945 namentlich und seiner Herkunft nach unbekannt gebliebene Hauptmann war nicht von einer Panzerbrigade. Ortschronist Gerhard Steinecke ermittelte, daß es sich um den hauptamtlichen „Nationalsozialistischen Führungsoffizier (BSFO)“ Kurt Dittes vom Stellvertretenden Generalkommando des IV. Armeekorps in Dresden handelte. Der Offizier sollte die Evakuierung und Verteidigung Meißens erzwingen. Wegen der überraschend schon am Vormittag des 6. Mai beginnenden „Prager Operation“ der Roten Armee und ihrem raschen Vormarsch auf Meißen mußte dieser wichtige Stabsoffizier überstürzt zurückbefohlen werden.
Zeitzeugen sagen aus:
Giso Müller, 1945 dreizehn Jahre alt, war am 6. Mai mit seinem Vater auf dem Markt: „Der Markt war, als wir ankamen, bereits gut gefüllt. Nach meiner Auffassung mußten es 400 Personen sein, ältere Männer, Verwundete, aber auch viele Hausfrauen und Mütter, deren Söhne an der Front waren. Als wir ankamen, sprach schon der Wehrmachtsoffizier. Sein Auftreten verriet diese fanatische Kampfstimmung für einen „Endsieg“. Er wurde mehrmals durch Protestrufe unterbrochen. Nach dem Kampfredner erschien ein Mann in Zivilkleidung, stellte sich vor und sagte, daß er Meißen vor weiteren kriegerischen Maßnahmen schützen will.Er verurteilte die Gewaltrede des Vorgängers und bekam den Beifall der Bevölkerung. Seine Worte wurden immer wieder mit offener Zustimmung begrüßt. Wir waren über den Mut von Willy Anker erstaunt. Für die teilnehmende Meißner Bevölkerung ein außergewöhnlicher Zustand.“ (Erinnerungsbericht G. Müllers vom 26.11.2009)
Ursula Rien bestätigt es: „Mit Unmut wurde der Ausruf, die Stadt wird verteidigt, es gehe um den Endsieg, und die Aufforderung des Wehrmachts- oder SS-Offiziers aufgenommen, die Stadt zu verlassen. Verzweiflung machte sich nicht nur bei mir breit. Doch plötzlich ertönte eine Stimme, die die Versammelten aufrief zur Besonnenheit, der Sinnlosigkei der Verteidigung der Stadt und des widerstandslosen Empfanges der sowjetischen Truppen. Auch vernahm ich die Bitte, ein Plündern zu verhindern. Geht nach Hause. Mit gemischten Gefühlen ging ich nach Hause, einmal war es die Angst vor den Tod und die wachsende Hoffnung und Zuversicht, dass sich die mutigen Worte von Willy Anker, dessen Namen ich bei der Auflösung der Versammlung erfuhr, erfüllen. Wir vertrauten ihm und blieben, wie die meisten Einwohner, zu Hause.“
Margot Wahl, damals 14 Jahre alt, die mit ihrer Mutter und mit ihrer Schwester auf dem Markt war, erinnert sich: „Nach einem mörderischen Befehl der Nazis sollten wir Bürger unsere Stadt verlassen, aber wohin? … Da gab uns ein Mann, Willy Anker, Hoffnung und Mut in einer Rede, die mehr als mutig war. Er gab uns Hoffnung für die Zukunft. Doch dies können wohl nur Meißner Bürger, die diese Zeit am eigenen Leib gespürt haben, verstehen und werten.“ (Leserbrief in der SZ 29.4.10)
Die Mutter der Zeitzeugin Edith Winter, die ebenfalls auf den Markt gegangen war, um zu erfahren, ob sie die Stadt wirklich verlassen müssen, kam nach diesem Aufruf Willy Ankers sehr erleichtert nach Hause und sagte ihrer Tochter Edith, daß sie nun doch daheim bleiben können.
Ein aus Meißen befehlsgemäß geflohenes Ehepaar, das bis bis Tharandt gekommen war, äußerte sich auf seinem Rückmarsch in Wilsdruff: „Man kann auch zu Hause umkommen, sicherer ist das noch auf der Landstraße.“ (Wolfgang Fleischer „Das Kriegsende in Sachsen 1945,, S. 132)
Vier Auszüge aus dem Manuskript der Biographie Willy Ankers, die Ortschronist Gerhard Steinecke nach umfangreichen akribischen Recherchen unter dem Arbeitstitel „Links geradeaus auf verschlungenen Wegen“zur Veröffentlichung vorbereitet:
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