Meißens Schicksalstage im April und Mai 1945
Meißen sei ein „Mikrokosmos der deutschen Geschichte“, meinte einst der berühmte deutsche Historiker Karl Gotthard Lamprecht (1856-1915). Die Wahrheit seiner Worte erwies sich gerade auch in der Zeit des „roten Meißens“ von 1918 bis 1933, in den leidvoll bitteren Jahren der NS-Herrschaft von 1933 bis 1945 und nicht zuletzt im Frühjahr 1945, als Meißen zu einem Brennpunkt des Verzweiflungskampfes um die Abwendung der Niederlage des Hitlerregimes und um seinen immer noch erhofften „Endsieg“ wird.
Was geschieht seit Anfang 1945 in Meißen?
- Von Januar bis Anfang März 1945 ziehen über eintausend deutsche Flüchtlingstrecks aus dem Osten durch Meißen. Über viertausend Flüchtlinge versuchen in Meißen unterzukommen.
- Am 30. Januar 1945 findet auf dem Markt die jährliche Kundgebung zum Jahrestag der “Machtergreifung” statt. NSDAP-Kreisleiter Böhme behauptet, Hitler erfülle “einen Auftrag Gottes”. Er werde seine “Sendung gottbegnadet” bis zum Endsieg erfüllen.
- Am 1. Februar 1945 erklärt Gauleiter Mutschmann beim Appell eines Meißner Volkssturmbataillons: “Es gibt für uns nur eins: Siegen oder sterben.”
- Seit Mitte Februar treffen Hunderte beim Bombenangriff verwundete und 18.000 obdachlos
gewordene Dresdner in Meißen ein und müssen untergebracht werden. - Am 11. März 1945 Kundgebung zum “Heldengedenktag”: NSDAP-Kreisleiter Böhme
beschwört die Entschlossenheit zum Kampf bis zum “Endsieg”. - Am 2. April trägt NSDAP-Kreisleiter Hellmuth Böhme in sein Tagebuch ein:
„2. 4.45, früh 8.30 h verabschiedete ich in der Kreisleitung 5 Mann für das Freikorps >Adolf Hitler< … Die Wehrmacht ist aufgestanden, dem Feind den Aufenthalt im Reich zur Hölle zu machen. Selbst bei uns wird geschanzt, werden Sperren errichtet, und zur Verteidigung Meißens habe ich Waffen und Minen bauen lassen, die wir einsetzen werden, solange noch Leben in uns ist.“ (G. Steinecke „Unser Meißen – 1929-2004“, Abb. 86 auf S. 106) - Im April werden immerwieder Marschkolonnen aus Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und
KZ-Häftlingen durch die Stadt geführt. - Am Sonntag, den 15. April 1945 wird über Meißen der Belagerungszustand verhängt. Auf der Albrechtsburg richtet Kampfkommandant SS-Obersturmbannführer Voß seinen Gefechtsstand ein.
- Am Mittwoch, den 18. April 45 werden im Buschbad oberhalb des Diebeskellers und im Stadtwald Werfer-Batterien in Stellung gebracht. In der Albrechtsburg werden Panzerfäuste und Handgranaten eingelagert. (G. Steinecke „Vorbereitung auf den Endkampf“, Teil 1 in der Serie: „1945. Kriegsschauplatz Meißner Land“, MTB 2005)
- Zeitzeuge Giso Müller erinnert sich an einen Meißner HJ-Appell gegen Ende April – vielleicht wie immer zum Führergeburtstag am 20. April? – auf dem zwei ältere Hitlerjungen aus der Poststraße zur „Kampflinie Meißen-Bonitzsch“ abkommandiert werden. „Einen Tag später waren sie durch russische Scharfschützen tot.“ (Schriftlicher Erinnerungsbericht von Giso Müller vom 29.11.2009)
- Am Montag, den 23. April erhängen HJ-ler aus der HJ-Führerschule Dresden in Polenz den Arbeiter Max Stange an einer Linde, weil sie bei ihm eine weiße Fahne fanden.
- Am Donnerstag, den 26. April 45 sprengt eine Pionierabteilung der Wehrmacht auf Befehl des Generals Lüdecke und des Standortkommandanten SS-Obergruppenführer Voß die Meißner Brücken über die Elbe. Das gelingt nur zu cirka 60 %, weil der Metallarbeiter und Sozialdemokrat Arthur Starke in der Nacht zuvor – unbemerkt von der Wehrmachts-Brückenwache – heimlich ein Zündkabel durchschneiden konnte, sodaß der Mittelteil der Brücke erhalten bleibt. Die Sprengung richtet jedoch größere Zerstörungen in der näheren Umgebung und Schäden in der Altstadt an.
- Am Sonntag, den 29. April rücken in das schon sowjetisch besetzt gewesene Lommatzsch SS-Einheiten ein. Sie erschießen an der Kirche 35-39 ausländische Zwangsarbeiter/innen sowie den 16-jährigen Heinz Leichtweiß und den 13-jährigen Sohn einer deutschen Flüchtlingsfamilie wegen angeblicher Plünderei.
- Am Sonntag, den 29. April werden auf dem Meißner Burghof vier junge deutsche Wehrmachtssoldaten von der Feldgendarmerie standrechtlich erschossen.
- Am Montag, den 30. April, erklärt Gauleiter Mutschmann noch einmal drohend: “Wer … Verwirrung stiftet oder schlapp macht, ist ein Schuft und hat sein Leben verwirkt.”
- Am Dienstag, den 1. Mai, werden am Forsthaus im Golkwald die Deutsche Olga Morr mit ihren beiden 8- und 13-jährigen Kindern Franz und Karl wegen Kollaboration mit den “Russen” erschossen.
- Am Montag, den 7. Mai werden in Hartha der 6-jährige Bernd Frenzel und seine Mutter vom gezielten Beschuss der Wehrmacht tödlich getroffen, nur weil sie weiße Wäsche aufgehängt hatten.
- Am Vormittag des 8. Mai wird in Dresden der Arzt Dr. Rainer Fetscher von einer SS-Streife erschossen, weil er der Roten Armee mit einer weißen Fahne entgegenging.
Der mutige Auftritt des Superintendenten Herbert Böhme vor Meißner NS-Herrschern am 27. April 1945
Superintendent Herbert Böhme berichtete kurz nach Kriegsende: „Am Donnerstag, 26. April, … hatte ich meine Töchter nach Wilsdruff in Sicherheit gebracht und war noch am späten Abend … nach Meißen zurückgekehrt, um Stadt und Gemeinde nicht im Stich zu lassen. Unterwegs schon begegnete mir ein endloser Strom von Flüchtlingen aus Meißen, und als ich dort ankam, fand ich die Stadt durch die Brückensprengungen schwer beschädigt.“ (Bericht H. Böhmes an die Kirchenleitung vom 13. Juli 1945. Stadtarchiv Meißen)
Am Freitag, den 27. April spricht Superintendent Herbert Böhme in Begleitung der Pfarrer Hoffmann und Schröder sowie von Studienrat Dr. Johannes Lorenz bei Bürgermeister Kaule in seinem Amtszimmer im Rathaus vor und bittet um Verzicht auf die befohlene Verteidigung Meißens. Er muss aber gewusst haben, dass auf jegliches Bemühen um einen Verzicht auf einen befohlenen Kampf der Tod steht. Es stand immer wieder in den Zeitungen und war auch im Rundfunk oft genug warnend verkündet worden.
Kaule schickt den Superintendenten zum Stadtkommandanten SS-Obersturmbannführer Voß, den er ebenfalls offen und unverblümt um einen Kampfverzicht bittet. Der SS-Führer erklärt sich an seinen Befehl gebunden, den er „ohne Rücksicht auf die Folgen durchführen“ wird. Er wirft die Delegation hinaus.
Die drei Geistlichen gehen noch einmal zum Rathaus, um mit dem Bürgermeister über den Schutz von Frauen und Kindern vor dem Kampf zu beraten.
Im Rathauseingang wird Herbert Böhme vom Polizeichef Major Menzel verhaftet und sofort dem NSDAP-Kreisleiter Böhme vorgeführt. Dieser bestimmt ihn zum Tod durch Erschießen oder Erhängen, was aber noch vom Gauleiter bestätigt werden müsse. Der Superintendent wird dann im Meißner Rathaus eingesperrt.
NS-Stadtrat Richard Kmoch kümmert sich um ihn, versucht ihm die Haft erträglicher zu machen und ermöglicht ihm vor allem auch Kontakt zu seiner Frau, zu seinen Amtskollegen und zu seinem Anwalt Dr. Franze. Der Gauleiter fordert am 1. Mai ein Standgericht für Herbert Böhme, dem sich aber die beiden dafür vorgesehenen Meißner Juristen Amtsgerichtsrat Burckhardt und Landgerichtsrat Leonhardt trotz Drohungen des Kreisleiters Böhme standhaft verweigern.
Herbert Böhme wird daher am 2. Mai in das Landgericht Dresden am Münchner Platz überführt, wo ihm der vernehmende Staatsanwalt ein Gerichtsverfahren ankündigt und erklärt, dass er ihn wegen der zu erwartenden hohen Strafe wegen versuchter Wehrkraftzersetzung in Haft behalten müsse. Als die Sowjettruppen am 7. Mai in Dresden einzudringen beginnen, wird Herbert Böhme mit allen anderen Häftlingen freigelassen.
Wie geht es Anfang Mai 1945 in Meißen zu?
Meißens Straßen, besonders die Altstadt und der Marktplatz, bleiben bis zum 5./6. Mai 1945 von Gruppen der Wehrmacht, der SS, des „Volkssturms“, der Polizei und der HJ dominiert. Irgendwelche lauten Proteste mit „erhobener Stimme“ in der Öffentlichkeit auf dem Markt oder in den Straßen sind absolut nicht möglich. Sie hätten zu sofortigen Hinrichtungen führen können.
Am 2. Mai 1945: Heiliger Schwur auf dem Markt: „Adolf Hitler – nun erst recht – Sieg heil!“
In der NSDAP-Kreisleitung Fährmannstraße ziehen nach der Bekanntgabe des Todes Hitlers in einer hergerichteten „Ehrenhalle für den toten Führer“ Wehrmachts-Doppelposten auf. Eine Dauerflamme erleuchtet den Raum. Die Bevölkerung defiliert und legt Blumen nieder. Die Ehrenhalle soll bis zum Sonntag, den 6. Mai geöffnet bleiben.
Am 2. Mai 1945 mobilisierten die Meißner Nazis Hunderte Bürger zu einer großen Gedenkkundgebung für den toten Hitler und für die Bewahrung der Stadt durch ihre Verteidigung gegen die vom Westen und vom Osten nahenden alliierten Truppen bis zum angeblich sicheren „Endsieg“.
Das Meißner Tagesblatt vom 3. Mai 1945 berichtet unter der Überschrift „Bekenntnis zum Führer und seinem Vermächtnis“ (Die nachstehende Kopie ist leider unleserlich): „Auf dem Markt haben sich so viele Meißner Volksgenossen versammelt, daß sie den Platz und die Bürgersteige fast füllten, … . Vor dem Rathaus, an dem die Fahnen des Reiches, mit schwarzen Bändern umflort, den toten Führer grüßten, war eine Ehrenabteilung der Wehrmacht aufmarschiert. Nach der Verlesung der Meldung vom Tode des Führers erklang dumpfer Trommelwirbel. …“ NSDAP-Kreisleiter Hellmut Böhme fordert dann, „getreu den Befehlen des Führers weiter zu kämpfen, bis die bolschewistische Pest endgültig vernichtet ist. … In fanatischer Entschlossenheit bekannte sich die versammelte Bevölkerung am Schluss der Ansprache Böhmes zu dem alten Schlachtruf >Adolf Hitler – nun erst recht – Sieg heil!< Meißen bekannte sich zu seinem Führer und zu seinem Vermächtnis.“
Vom 3. bis zum 5./6.Mai 1945 wird die Bevölkerung mit einem durch Lautsprecherwagen und NS-Blockleiter in jedes Haus gebrachten Befehl des NSDAP-Kreisleiters zur Flucht aus der Stadt wegen ihrer bevorstehenden Verteidigung gedrängt. Hunderte Meißner befolgen diese Anordnung.
Die Meißnerin Anne Schmidt berichtet, dass ihre Familie sich am 4. Mai ohnehin schon auf ihre Flucht vorbereitete, als der Lautsprecherwagen kam und den Befehl gab, “dass der ganze Kreis Meißen geräumt werden müsse. Es solle um Meißen eine große Schlacht geschlagen werden. Da wir gerade marschbereit waren, zogen wir los.”
(U. Klingenberg “Tagebuch-Notizen aus Meißen-Zscheila …”, Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der
Stadt Meißen 1/2000, S. 96)
Doch die meisten Bürger möchten bleiben.
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